Auszug aus dem Entscheid Nr. 3/2024 vom 11. Januar 2024 Geschäftsverzeichnisnummern 7481, 7510

Auszug aus dem Entscheid Nr. 3/2024 vom 11. Januar 2024

Geschäftsverzeichnisnummern 7481, 7510, 7511 und 7521

In Sachen: Klagen auf völlige oder teilweise Nichtigerklärung der Ordonnanz der Region Brüssel-Hauptstadt vom 29. Oktober 2020 « zur Abänderung der Ordonnanz vom 26. Juli 2013 zur Umsetzung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG und zur Abänderung des Brüsseler Kodex über das Steuerverfahren », erhoben von der faktischen Vereinigung « Belgian Association of Tax Lawyers » und anderen, von der Kammer der französischsprachigen und deutschsprachigen Rechtsanwaltschaften, von der Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften und Alain Claes und vom Institut der Steuerberater und Buchprüfer.

Der Verfassungsgerichtshof,

zusammengesetzt aus den Präsidenten L. Lavrysen und P. Nihoul, und den Richtern T. Giet, J. Moerman, M. Pâques, Y. Kherbache, D. Pieters, S. de Bethune, E. Bribosia und K. Jadin, unter Assistenz des Kanzlers N. Dupont, unter dem Vorsitz des Präsidenten L. Lavrysen,

erlässt nach Beratung folgenden Entscheid:

  1. Gegenstand der Klagen und Verfahren

    1. Mit einer Klageschrift, die dem Gerichtshof mit am 11. Dezember 2020 bei der Post aufgegebenem Einschreibebrief zugesandt wurde und am 15. Dezember 2020 in der Kanzlei eingegangen ist, erhoben Klage auf teilweise Nichtigerklärung der Ordonnanz der Region Brüssel-Hauptstadt vom 29. Oktober 2020 « zur Abänderung der Ordonnanz vom 26. Juli 2013 zur Umsetzung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG und zur Abänderung des Brüsseler Kodex über das Steuerverfahren » (veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 6. November 2020, zweite Ausgabe): die faktische Vereinigung « Belgian Association of Tax Lawyers », Paul Verhaeghe und Gerd Goyvaerts, unterstützt und vertreten durch RA P. Malherbe, in Brüssel zugelassen.

      Mit derselben Klageschrift beantragten die klagenden Parteien ebenfalls die teilweise einstweilige Aufhebung derselben Ordonnanz. In seinem Entscheid Nr. 46/2021 vom 11. März 2021 (ECLI:BE:GHCC:2021:ARR.046), veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 16. März 2021, zweite Ausgabe, hat der Gerichtshof diese Ordonnanz teilweise einstweilig aufgehoben.

    2. Mit einer Klageschrift, die dem Gerichtshof mit am 3. Februar 2021 bei der Post aufgegebenem Einschreibebrief zugesandt wurde und am 5. Februar 2021 in der Kanzlei eingegangen ist, erhob die Kammer der französischsprachigen und deutschsprachigen Rechtsanwaltschaften, unterstützt und vertreten durch RÄin S. Scarnà, in Brüssel zugelassen, Klage auf Nichtigerklärung derselben Ordonnanz.

      Mit derselben Klageschrift beantragte die klagende Partei ebenfalls die einstweilige Aufhebung derselben Ordonnanz. In seinem Entscheid Nr. 95/2021 vom 17. Juni 2021 (ECLI:BE:GHCC:2021:ARR.095), veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 7. Februar 2022, hat der Gerichtshof die Klage auf einstweilige Aufhebung zurückgewiesen.

    3. Mit einer Klageschrift, die dem Gerichtshof mit am 5. Februar 2021 bei der Post aufgegebenem Einschreibebrief zugesandt wurde und am 8. Februar 2021 in der Kanzlei eingegangen ist, erhoben Klage auf Nichtigerklärung derselben Ordonnanz: die Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften und Alain Claes, unterstützt und vertreten durch RA P. Wouters, beim Kassationshof zugelassen.

      Mit derselben Klageschrift beantragten die klagenden Parteien ebenfalls die einstweilige Aufhebung derselben Ordonnanz. In seinem Entscheid Nr. 96/2021 vom 17. Juni 2021 (ECLI:BE:GHCC:2021:ARR.096), veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 17. Januar 2022, hat der Gerichtshof die Klage auf einstweilige Aufhebung zurückgewiesen.

    4. Mit einer Klageschrift, die dem Gerichtshof mit am 23. Februar 2021 bei der Post aufgegebenem Einschreibebrief zugesandt wurde und am 25. Februar 2021 in der Kanzlei eingegangen ist, erhob das Institut der Steuerberater und Buchprüfer, unterstützt und vertreten durch RA F. Judo und RÄin L. Proost, in Brüssel zugelassen, Klage auf teilweise Nichtigerklärung derselben Ordonnanz.

      Diese unter den Nummern 7481, 7510, 7511 und 7521 ins Geschäftsverzeichnis des Gerichtshofes eingetragenen Rechtssachen wurden verbunden.

      (...)

  2. Rechtliche Würdigung

    (...)

    In Bezug auf die angefochtenen Bestimmungen

    B.1.1. Die klagenden Parteien beantragen die Nichtigerklärung verschiedener Bestimmungen der Ordonnanz der Region Brüssel-Hauptstadt vom 29. Oktober 2020 « zur Abänderung der Ordonnanz vom 26. Juli 2013 zur Umsetzung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG und zur Abänderung des Brüsseler Kodex über das Steuerverfahren » (nachstehend: Ordonnanz vom 29. Oktober 2020).

    Diese Ordonnanz setzt die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 « zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen » (nachstehend: Richtlinie (EU) 2018/822) um.

    Die Richtlinie (EU) 2018/822/EG ändert die Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 « über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG » (nachstehend: Richtlinie 2011/16/EU) ab.

    Der Gegenstand der Richtlinie 2011/16/EU besteht darin, « die Regeln und Verfahren [festzulegen], nach denen die Mitgliedstaaten untereinander im Hinblick auf den Austausch von Informationen zusammenarbeiten, die für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten über die [dem Anwendungsbereich der Richtlinie unterliegenden] Steuern voraussichtlich erheblich sind » (Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2011/16/EU).

    Aus dem Erwägungsgrund 2 der Richtlinie (EU) 2018/822 ergibt sich, dass diese sich im Rahmen der Bemühungen der Europäischen Union bewegt, Steuertransparenz auf Unionsebene zu berücksichtigen:

    Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. Derartige Strukturen umfassen häufig Gestaltungen, die für mehrere Hoheitsgebiete gemeinsam entwickelt werden und durch die steuerpflichtige Gewinne in Staaten mit vorteilhafteren Steuersystemen verlagert werden oder die eine Verringerung der Gesamtsteuerbelastung der Steuerpflichtigen bewirken. Infolgedessen kommt es häufig zu einem beträchtlichen Rückgang der Steuereinnahmen in den Mitgliedstaaten, was diese wiederum daran hindert, eine wachstumsfreundliche Steuerpolitik zu verfolgen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten. Diese Informationen würden die Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen. [...]

    .

    Konkret müssen die Mitgliedstaaten eine zuständige Behörde benennen, die für den Austausch von Informationen über « potenziell aggressive » grenzüberschreitende Steuergestaltungen zwischen den Mitgliedstaaten verantwortlich ist. Damit die zuständigen Behörden über diese Informationen verfügen können, führt die Richtlinie eine Meldepflicht für solche Gestaltungen ein.

    B.1.2. Die Meldepflicht trifft in erster Linie die sogenannten Intermediäre, die normalerweise an der Umsetzung solcher Gestaltungen beteiligt sind. Wenn jedoch solche Intermediäre fehlen oder sie sich auf eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht berufen können, trifft die Meldepflicht den Steuerpflichtigen:

    (6) Die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen kann die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt nachhaltig unterstützen. Hier würde die Verpflichtung der Intermediäre, die Steuerbehörden über bestimmte grenzüberschreitende Gestaltungen zu informieren, die möglicherweise für aggressive Steuerplanung genutzt werden könnten, einen Schritt in die richtige Richtung darstellen. [...]

    [...]

    (8) Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und Schlupflöcher in den vorgeschlagenen Rahmenvorschriften zu vermeiden, sollten alle Akteure, die normalerweise an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Transaktion oder einer Reihe solcher Transaktionen beteiligt sind, sowie alle, die Unterstützung oder Beratung leisten, zur Meldung verpflichtet sein. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in bestimmten Fällen die Meldepflicht eines Intermediärs aufgrund einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht nicht durchsetzbar ist oder gar kein Intermediär vorhanden ist, weil beispielsweise der Steuerpflichtige eine Steuerplanungsgestaltung selbst konzipiert und umsetzt. Es wäre äußerst wichtig, dass die Steuerbehörden in solchen Fällen weiterhin die Möglichkeit haben, Informationen über Steuergestaltungen zu erhalten, die potenziell mit aggressiver Steuerplanung verbunden sind. Hierfür müsste die Meldepflicht auf den Steuerpflichtigen verlagert werden, der in diesen Fällen von der Gestaltung profitiert

    (Erwägungsgründe 6-8).

    B.1.3. Zur Umsetzung dieser Meldepflicht in der Region Brüssel-Hauptstadt führt die Ordonnanz vom 29. Oktober 2020 einige Abänderungen an der Ordonnanz der Region Brüssel-Hauptstadt vom 26. Juli 2013 « zur Umsetzung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die...

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