Auszug aus dem Entscheid Nr. 111/2023 vom 20. Juli 2023 Geschäftsverzeichnisnummern 7429 und 7443 In Sachen: Klagen auf völlige oder teilweise Nichtigerklärung des flämischen Dekrets vom 26. Juni
Auszug aus dem Entscheid Nr. 111/2023 vom 20. Juli 2023
Geschäftsverzeichnisnummern 7429 und 7443
In Sachen: Klagen auf völlige oder teilweise Nichtigerklärung des flämischen Dekrets vom 26. Juni 2020 « zur Abänderung des Dekrets vom 21. Juni 2013 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen », erhoben von der Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften und Alain Claes und von der faktischen Vereinigung « Belgian Association of Tax Lawyers » und anderen.
Der Verfassungsgerichtshof,
zusammengesetzt aus den Präsidenten L. Lavrysen und P. Nihoul, und den Richtern J. Moerman, M. Pâques, Y. Kherbache, T. Detienne, D. Pieters, S. de Bethune, E. Bribosia und K. Jadin, unter Assistenz des Kanzlers N. Dupont, unter dem Vorsitz des Präsidenten L. Lavrysen,
erlässt nach Beratung folgenden Entscheid:
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Gegenstand der Klagen und Verfahren
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Mit einer Klageschrift, die dem Gerichtshof mit am 31. August 2020 bei der Post aufgegebenem Einschreibebrief zugesandt wurde und am 1. September 2020 in der Kanzlei eingegangen ist, erhoben Klage auf Nichtigerklärung des flämischen Dekrets vom 26. Juni 2020 « zur Abänderung des Dekrets vom 21. Juni 2013 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen » (veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 3. Juli 2020): die Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften und Alain Claes, unterstützt und vertreten durch RA P. Wouters, beim Kassationshof zugelassen.
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Mit einer Klageschrift, die dem Gerichtshof mit am 1. Oktober 2020 bei der Post aufgegebenem Einschreibebrief zugesandt wurde und am 2. Oktober 2020 in der Kanzlei eingegangen ist, erhoben Klage auf teilweise Nichtigerklärung desselben Dekrets: die faktische Vereinigung « Belgian Association of Tax Lawyers », Paul Verhaeghe und Gerd Goyvaerts, unterstützt und vertreten durch RA P. Malherbe, in Brüssel zugelassen.
Mit denselben Klageschriften beantragen die klagenden Parteien ebenfalls die völlige oder teilweise einstweilige Aufhebung desselben Dekrets.
Diese unter den Nummern 7429 und 7443 ins Geschäftsverzeichnis des Gerichtshofes eingetragenen Rechtssachen wurden verbunden.
In seinem Zwischenentscheid Nr. 167/2020 vom 17. Dezember 2020 (ECLI:BE:GHCC:2020:ARR.167), veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 22. Dezember 2020, hat der Verfassungsgerichtshof das Dekret teilweise einstweilig aufgehoben und dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Vorabentscheidungsfrage gestellt:
Verstößt Artikel 1 Nummer 2 der Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 ` zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen ' gegen das Recht auf ein faires Verfahren im Sinne von Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und das Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Artikel 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, sofern der neue Artikel 8ab Absatz 5, den er in die Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 ` über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG ' eingefügt hat, vorsieht, dass, wenn ein Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde, dieser die Pflicht hat, die Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten zu unterrichten, und sofern diese Verpflichtung dazu führt, dass ein Rechtsanwalt, der als Intermediär tätig wird, verpflichtet wird, Informationen, die er bei der Ausübung der wesentlichen Tätigkeiten seines Berufes, nämlich der Verteidigung oder der Vertretung des Mandanten vor Gericht und der Rechtsberatung, sei es auch außerhalb eines Gerichtsverfahrens, erfährt, an einen anderen Intermediär mitzuteilen, der nicht sein Mandant ist?
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(...)
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Rechtliche Würdigung
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In Bezug auf die angefochtenen Bestimmungen
B.1.1. Die klagende Partei in der Rechtssache Nr. 7429 beantragt die Nichtigerklärung der Artikel 1 bis 30 des flämischen Dekrets vom 26. Juni 2020 « zur Abänderung des Dekrets vom 21. Juni 2013 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen » (nachstehend: Dekret vom 26. Juni 2020). Die klagenden Parteien in der Rechtssache Nr. 7443 beantragen die Nichtigerklärung der Artikel 5 Nr. 2 (was die Ziffern 19 bis 23 betrifft), 11, 12, 14, 15, 17, 18, 23 und 29 desselben Dekrets.
Das Dekret vom 26. Juni 2020 setzt die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 « zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen » (nachstehend: Richtlinie (EU) 2018/822) um.
Die Richtlinie 2018/822/EG ändert die Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 « über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG » (nachstehend: Richtlinie 2011/16/EU) ab.
Der Gegenstand der Richtlinie 2011/16/EU besteht darin, « die Regeln und Verfahren [festzulegen], nach denen die Mitgliedstaaten untereinander im Hinblick auf den Austausch von Informationen zusammenarbeiten, die für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten über die [dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie unterliegenden] Steuern voraussichtlich erheblich sind » (Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2011/16/EU).
Aus dem Erwägungsgrund 2 der Richtlinie (EU) 2018/822 ergibt sich, dass diese sich im Rahmen der Bemühungen der Europäischen Union bewegt, die Steuertransparenz auf Unionsebene zu erleichtern:
Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. Derartige Strukturen umfassen häufig Gestaltungen, die für mehrere Hoheitsgebiete gemeinsam entwickelt werden und durch die steuerpflichtige Gewinne in Staaten mit vorteilhafteren Steuersystemen verlagert werden oder die eine Verringerung der Gesamtsteuerbelastung der Steuerpflichtigen bewirken. Infolgedessen kommt es häufig zu einem beträchtlichen Rückgang der Steuereinnahmen in den Mitgliedstaaten, was diese wiederum daran hindert, eine wachstumsfreundliche Steuerpolitik zu verfolgen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten
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Konkret müssen die Mitgliedstaaten eine zuständige Behörde benennen, die für den Austausch von Informationen über « potenziell aggressive » grenzüberschreitende Steuergestaltungen zwischen den Mitgliedstaaten verantwortlich ist. Damit die zuständigen Behörden über diese Informationen verfügen können, führt die Richtlinie eine Meldepflicht für solche Gestaltungen ein.
B.1.2. Die Meldepflicht trifft in erster Linie die sogenannten Intermediäre, die normalerweise an der Umsetzung solcher Gestaltungen beteiligt sind. Wenn jedoch solche Intermediäre fehlen oder sie sich auf eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht berufen können, trifft die Meldepflicht den Steuerpflichtigen:
(6) Die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen kann die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt nachhaltig unterstützen. Hier würde die Verpflichtung der Intermediäre, die Steuerbehörden über bestimmte grenzüberschreitende Gestaltungen zu informieren, die möglicherweise für aggressive Steuerplanung genutzt werden könnten, einen Schritt in die richtige Richtung darstellen. [...]
[...]
(8) Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und Schlupflöcher in den vorgeschlagenen Rahmenvorschriften zu vermeiden, sollten alle Akteure, die normalerweise an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Transaktion oder einer Reihe solcher Transaktionen beteiligt sind, sowie alle, die Unterstützung oder Beratung leisten, zur Meldung verpflichtet sein. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in bestimmten Fällen die Meldepflicht eines Intermediärs aufgrund einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht nicht durchsetzbar ist oder gar kein Intermediär vorhanden ist, weil beispielsweise der Steuerpflichtige eine Steuerplanungsgestaltung selbst konzipiert und umsetzt. Es wäre äußerst wichtig, dass die Steuerbehörden in solchen Fällen weiterhin die Möglichkeit haben, Informationen über Steuergestaltungen zu erhalten, die potenziell mit aggressiver Steuerplanung verbunden sind. Hierfür müsste die Meldepflicht auf den Steuerpflichtigen verlagert werden, der in diesen Fällen von der Gestaltung profitiert
(Erwägungsgründe 6 und 8).
B.1.3. Zur Umsetzung dieser Meldepflicht in der Flämischen Region führt das Dekret vom 26. Juni 2020 einige Abänderungen am Dekret vom 21. Juni 2013 « über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung » (nachstehend: Dekret vom 21. Juni...
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